Kunden-Nutzen präzise herausarbeiten
Menschen, die etwas kaufen, tun das, weil sie sich einen Nutzen versprechen. Sie erwarten für Ihre Investition eine Gegenleistung, die einen konkreten Nutzen bringt. Jeder hat schon erlebt, dass die Erwartung eines Nutzens enttäuscht wurde. Man kauft etwas und stellt dann fest, dass es vergeblich war, weil der Nutzen nicht im erhofften Ausmaß eintrat. Zum Zeitpunkt der Entscheidung war diese Erwartung noch gegeben, sonst hätte man sich wohl kaum entschieden, das Geld zu bezahlen.
Wir betrachten die Angelegenheit heute rein aus Sicht des Verkaufs, der keinen Einfluss auf die Qualität des Produktes oder der Dienstleistung hat. Hier wollen wir ganz bewusst keine Ideen zur Verbesserung des Produktes oder des Services sammeln. Es geht nur um die Frage, welchen Nutzen der Kunde von einem gegebenen Produkt oder einer festgelegten Dienstleistung hat.
Unterscheiden wir zwischen Merkmal, Vorteil und Nutzen. Dazu eignet sich ein Bild, das den Unterschied sehr einprägsam vermittelt. Nehmen wir uns ein Motorrad als Anschauungsobjekt. Ein solches Motorrad hat zwei Räder und ist etwa einen Meter breit. Na und? Das sind kaum reizvolle Aussagen, die ein Motorrad attraktiv erscheinen lassen, oder? Es sind ganz nüchterne Beschreibungen. Ein Merkmal – oder neudeutsch „feature“ – beschreibt eine Eigenschaft des Produktes (oder der Dienstleistung) und ist verkäuferisch gesehen nicht sehr wichtig. Die Eigenschaft an sich erzeugt noch keinen Anreiz zum Kauf.
Es ist sogar so, dass das Merkmal alleine unberechenbare Denkvorgänge beim Kunden auslösen kann. Wenn Sie sagen „Der Wagen hat satte 300 PS“ könnte man denken „coole Beschleunigung“, aber genauso auch „unnötiger Benzinverbrauch“. Und wenn Sie sagen „Wir sind als Unternehmen seit 1958 erfolgreich am Markt“, dann kann das als Reaktion auslösen „Prima. Da ist Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit zu erwarten“, aber ebenso könnte man denken „Oh je. Ein altbackener Mittelständler. Wir wollen ein modernes Unternehmen als Partner.“ Ähnliche Effekte können bei jeglicher Aufzählung von Merkmalen entstehen.
Allerdings kann man die relevanten Merkmale des Produktes oder der Dienstleistung sehr gut als Vorteil formulieren. Ein Motorrad etwa hat den Vorteil, dass es wenig Platz zum Abstellen benötigt, was in belebten Städten sehr hilfreich ist. Auch wenn man morgens vom Stadtrand in die Großstadt pendeln muss, bietet ein Motorrad große Vorteile, weil man an langen Staus vorbeifahren kann und schneller am Ziel ist.
Diese Vorteile kann man formulieren, ohne dass man einen spezifischen Kunden meint. Deshalb sind Vorteile nicht zwingend vom Vertrieb zu benennen. Eine gute Marketing-Abteilung wird dafür sorgen, dass alle Aussagen zu Merkmalen grundsätzlich in sinnvolle Vorteile umformuliert werden. Das gilt für alle Prospekte, Webseiten und Produktverpackungen. Reine Merkmale gehören in ein Datenblatt, damit die Beeinflusser, die wir in der zweiten Woche behandelt haben, ihre Fakten finden. Im Verkaufsgespräch haben sie nichts verloren.
Aber was nützt ein Motorrad, wenn man keinen passenden Führerschein hat? Oder wenn man nicht vom Stadtrand in die Großstadt pendelt? Jetzt wird der Unterschied zwischen Vorteil und Nutzen sonnenklar: Ein Vorteil ist lediglich ein potentieller Nutzen. Der eigentliche Nutzen kann erst ermittelt werden, wenn die individuelle Kundensicht klar ist.
Manche Menschen kaufen sich ein Motorrad, weil sie damit morgens schneller an der Arbeitsstelle sind. Andere kaufen sich genau das gleiche Motorrad, weil sie am Wochenende gerne daran herumschrauben. Und wieder andere tun es, weil sie damit vor der Eisdiele angeben wollen. Oder einfach nur, weil sie leidenschaftlich gerne Motorradtouren fahren.
Der Verkäufer kann nur im direkten Kontakt zum Kunden dessen individuelle Nutzenperspektive ergründen. Nur wer es schafft, das Produkt und dessen Eigenschaften auf die Seite zu stellen und sich ganz auf die Bedürfnisse des Kunden einzulassen, kann den jeweils relevanten Nutzen herausfinden. Das ist oft richtige Arbeit, weil Kunden sich nicht immer klar darüber sind, was sie genau wollen.
Exzellente Verkäufer verstehen sich darauf, die oft verschütteten Nutzenerwartungen freizulegen, indem sie sich ganz auf die Kundenperspektive konzentrieren. Das war bereits Thema in der ersten Woche, als der Grundsatz „Wozu statt Was oder Wie!“ behandelt wurde. Vertriebsorganisationen müssen in der Lage sein, individuell und in jedem einzelnen Kundenkontakt, den aus der Sicht des Kunden relevanten Nutzen herauszuarbeiten. Das ist schon deshalb keine einfache Aufgabe, weil wir Menschen dazu tendieren, alles was wir sehen, autobiografisch zu bewerten.
Man nennt das auch „autobiografisches Zuhören“. Bestimmt kennen Sie das: Sie sind in einem Gespräch – sagen wir auf einer Stehparty oder bei einem geschäftlichen Empfang – und Sie berichten von einem Erlebnis. Es dauert nicht lange, bis einer der Zuhörer sagt: „Das kenne ich! Bei mir war das so …“ Das menschliche Gehirn ist so aufgebaut, dass wir immer versuchen, unsere Umwelt nach bekannten Mustern abzutasten und danach zu bewerten. Aus Sicht der Verkäufer bedeutet das, dass sie die ersten Anhaltspunkte, die der Kunde zu seinem Nutzen äußert, sofort in ein bekanntes Muster einordnen.
Wenn der Kunde also beispielsweise andeutet, dass er sich eine Ersparnis erwartet, brennt es dem Verkäufer auf den Nägeln, jetzt zu erwähnen, dass es bei einem vergleichbaren Kunden eine Einsparung der Materialkosten in Höhe von drei Prozent gab. Allerdings wollte der Kunde eine ganz andere Ersparnis erreichen, nämlich eine, die sich auf Zeitersparnis und damit auf eine höhere Produktionsquantität bezieht. Da dieser Ansatz bisher noch von keinem anderen Kunden so explizit erwartet wurde, kommt der Verkäufer gar nicht auf den Gedanken, dass sein Produkt auch so wirken könnte.
Deshalb verdient die Aufgabe „Kunden-Nutzen präzise herausarbeiten“ so viel Aufmerksamkeit, wenn Sie die Leistungsfähigkeit Ihrer Vertriebsorganisation auf Dauer erhalten wollen. Es erfordert Anstrengung, sich in die Kundenperspektive hineinzudenken, ohne sofort eigene Erlebnisse und Erfahrungen in den Vordergrund zu stellen. Es erfordert Kraft, das eigene Ego zu falten und für einen Moment in die Aktentasche zu stecken, statt mit der eigenen Expertise zu prahlen. Und es erfordert eine gewisse Gelassenheit, den Kunden weiter nach seiner Sicht zu befragen, wenn dieser zu Beginn des Gesprächs sagt: „Na dann erzählen Sie mal, was Sie Tolles anzubieten haben…“
In Kapitel 6 und 7 ab Woche 21 widmen wir uns ganze acht Wochen lang der professionellen Gesprächsführung und all ihren Aspekten. Mit vielen Beispielen, typischen Fehlern und Tipps, wie man sich auch in kritischen Gesprächen souverän verhält. In der nächsten Woche behandeln wir jedoch zunächst die dritte von vier Schlüsselaufgaben moderner Vertriebsorganisationen. Wir beschäftigen uns mit Auftragsplanung und Umsatz-Forecast unter dem Titel „Zuverlässige Einschätzung der Kundenentscheidung“.