„Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie“ sagte einst schon der zweite deutsche Bundeskanzler Ludwig Erhard, der als Vater des „deutschen Wirtschaftswunders“ gilt. Und auch international waren schon vor einiger Zeit viele Ökonomen der Meinung, dass emotionale und psychologische Faktoren die Wirtschaft beeinflussen, wie der Brite John Maynard Keynes in den Dreißigerjahren: „Märkte werden durch animalische Geister bewegt, nicht durch die Vernunft“.

Diese Woche schreibt meine Tochter Nina Heinrich einen Beitrag zum Thema Wirtschaftspsychologie über Fehlentscheidungen und wie wir sie vermeiden können. In ihrer Masterarbeit als Psychologin hat sie sich mit diesem Thema näher beschäftigt und erklärt nun als Gastautorin, wie wir diese Erkenntnisse in der Wirtschaft nutzen können.

Homo Oeconomicus? Wohl eher Psycho Oeconomicus!

Das Bild des Homo Oeconomicus unterstellt dem Menschen eine perfekt rationale Denk- und Handelsweise in der Wirtschaft. Inzwischen hat jedoch unsere praktische Erfahrung ein ganz anderes Bild aufgezeigt und die Forschung der Wirtschaftspsychologie kann das bestätigen: Menschen sind irrational.

Kein Mensch besitzt unbeschränkte kognitive Ressourcen, die für komplett rationales Handeln nötig wären. Man schätzt Situationen falsch ein, übersieht Dinge, Gefühle wie Stolz oder Angst kommen in die Quere – kurz: Menschen machen Fehler. Und das hat zur Folge, dass häufig nicht die besten Mittel zur Erreichung der eigenen Ziele gefunden werden.

Mit diesem Trick klappt es, Fehler zu vermeiden

Aber es ist noch nicht an der Zeit zu verzweifeln. Es gibt da einen Trick. Dazu muss man zuerst Folgendes wissen: Es gibt einen Unterschied zwischen Fehlern und Verzerrungen.

Fehler sind psychologisch eher weniger beeinflussbar, sie können zum Beispiel durch höhere Gewalt passieren und sind einfach zufällig. Verzerrungen hingegen, die in unserem Alltag extrem häufig vorkommen, sind systematisch und geschehen im Prinzip nach feststellbaren Ursachen. Wenn man also das Muster versteht, kann man es auch beeinflussen.

Fehler & Verzerrungen

Verzerrungen basieren wiederum auf Heuristiken. Heuristiken sind Faustregeln oder Abkürzungen, die unser Gehirn macht, um uns Hirnkapazität und Zeit einzusparen. Es ist sozusagen die Kunst mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu praktikablen Lösungen zu kommen.

Unser Gehirn sammelt unsere Erfahrungen, die wir bereits im Leben und in anderen Entscheidungssituationen gemacht haben, und bastelt sich daraus eine Art Leitfaden. Dann beurteilt es für uns Situationen oder trifft Entscheidungen nach diesem Muster, damit wir nicht großartig darüber nachdenken müssen und uns Zeit sparen. Außerdem können wir diese Anstrengung stattdessen in andere Dinge aufwenden. Schlau oder?

Die Logik hinter Entscheidungen verstehen

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Aber wie so oft, wenn nicht wirklich nachgedacht wird, geht das immer wieder mal schief. Das wird dann Verzerrung genannt.

Ein Beispiel für eine solche Verzerrung:

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind der Präsident oder die Präsidentin einer Airline. Sie verwalten das Budget von 10 Millionen Euro, das der Airline jedes Jahr für Forschung und Entwicklung zur Verfügung steht. Sie beschließen, das gesamte diesjährige Budget in die Entwicklung eines Projekts zu stecken, um ein Flugzeug zu entwickeln, das nicht vom Radar erfasst werden kann. Das Projekt ist nach mehreren Monaten mittlerweile zu 90% fortgeschritten, als Sie erfahren, dass einer Ihrer Konkurrenten ebenfalls ein solches Flugzeug plant, dieses aber deutlich schneller und gleichzeitig ökonomischer sein wird. Obendrein wird es voraussichtlich vor Ihrem Flugzeug fertig gestellt werden.

Die Frage ist: Investieren Sie die restlichen 10% des Geldes noch weiter in Ihr Projekt oder stampfen Sie es nun ein?
Wenn Sie so ticken wie 85% der Menschen, denen diese Versuchsfrage gestellt wurde, dann entscheiden Sie sich die letzten 10% auch noch zu investieren, um das Projekt trotzdem wenigstens fertig zu stellen. Schließlich besteht dann immer noch eine kleine Chance, dass nicht alles umsonst war, oder? Dabei wird jedoch meistens vergessen, dass es um Vielfaches wahrscheinlicher ist, dass Sie in diesem Fall nicht nur die 9 Millionen verloren hätten, sondern noch eine weitere Million direkt hinterhergeworfen hätten.

Ich möchte Sie noch einmal bitten, sich in den Präsidenten der Airline hineinzuversetzen. Stellen Sie sich eine komplett neue Situation vor, die andere hat nicht stattgefunden.

Sie gehen ihrer täglichen Arbeit nach, da macht Ihnen einer Ihrer Mitarbeiter einen Vorschlag. Sie sollten die letzte Million, die Ihnen dieses Jahr für Projektentwicklung zur Verfügung steht, in ein Flugzeug stecken, dass von einer anderen Firma derzeit bereits besser und kostengünstiger entwickelt wird.

Sie würden ihn für verrückt erklären, habe ich Recht?

Aber der einzige Unterschied zwischen den beiden Geschichten ist doch das bereits zuvor investierte Geld. Und Sie sehen, das sollte eigentlich keine Rolle spielen. Für die meisten Menschen tut es das allerdings unbewusst.

Versunkene Kosten in Ihrem Alltag

Weit hergeholtes Beispiel sagen Sie? Das Gleiche passiert in allen möglichen alltäglichen Bereichen immer wieder. Verkäufer und Verkäuferinnen, die seit Monaten einen Kunden bearbeiten, der jedes Mal weder zustimmt noch ablehnt („Ich habe jetzt schon so viele Gespräche investiert, einmal kann ich es jetzt schon noch versuchen, nächstes Telefonat kann ich ihn bestimmt überzeugen.“). Oder zum Beispiel Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die seit Jahren auf eine Beförderung hoffen und vertröstet werden („Ich arbeite nun schon seit Jahren in dieser Position, aber wenn ich jetzt das Unternehmen wechsle, war das Warten umsonst“).

Diese Denkweise ist eine Verzerrung. Hätten Sie den Kunden ins Archiv verbannt und im anderen Beispiel Ihren Job gewechselt, bevor Sie weitere Jahre verlieren, hätten Sie aus Sicht der meisten Entscheidungstheorien die „rationale“ Variante gewählt. Sie würde im Sinne einer Nutzenmaximierung dem Modell des Homo Oeconomicus entsprechen. Aber wie gesagt, so ticken wir nicht.

Erkennen Sie, wo genau der Fehler entsteht

Der Schlüssel ist nun zu erkennen, wo der Fehler entsteht. Nicht nur wie hier beim sogenannten „Sunk Cost Effekt“, sondern bei allen kognitiven Verzerrungen, müssen Sie das Prinzip verstehen, nach dem wir Entscheidungen treffen, um den Fehler zu entdecken. Und hierbei hilft Ihnen ein Modell aus der Wirtschaftspsychologie, das den Entscheidungsprozess recht treffend darstellt.

Das Modell ist relativ komplex, das essenzielle für Sie ist jedoch folgendes: Im Zentrum dieses Modells stehen unsere Bedürfnisse.

Neben unseren biologischen Bedürfnissen, wie zum Beispiel nach Nahrung, nach Schlaf und nach Unversehrtheit, bilden diese Bedürfnisse nach Kompetenz, nach Bestimmung (also der Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit einer Situation) und nach Affiliation (das heißt so viel wie Bindung oder Zugehörigkeit) die Grundlage unserer Motive.

Bedürfnistank

Wir können sie uns wie drei Tanks vorstellen, die befüllt und geleert werden können. Wenn wir zum Beispiel ein Erfolgserlebnis haben, füllt sich unser Kompetenztank. Bei einer Situation, die für uns unübersichtlich oder unvorhersehbar ist, leeren sich unsere Kompetenz- und Bestimmungstanks ein bisschen. Das wird durch persönliche Erlebnisse, Erfahrungen oder auch einfach durch den Tageszeitpunkt beeinflusst. Und unter diesen Voraussetzungen reagieren wir individuell auf die unterschiedlichen Entscheidungssituationen. Diese Tanks sind also ein Abbild des aktuellen Stands unserer Bedürfnisse.

Die Bedürfnisstärke ist abhängig vom Füllstand des Tanks. Das heißt, je niedriger der Füllstand in einem oder mehreren unserer Tanks ist, desto höher ist unser Drang, diese wieder aufzufüllen. Wenn unser Kompetenzempfinden sehr niedrig ist, möchten wir uns so schnell wie möglich wieder als kompetent empfinden. Da wir es so empfinden, als würde die Zeit nicht mehr ausreichen, um intensiv über die Entscheidung nachzudenken, greift unser Gehirn unbewusst schnell zu einer Abkürzung, um den Tank wieder aufzufüllen. Und wenn wir nun zu einer Heuristik als Entscheidungsgrundlage greifen, unterliegen wir oft einer Verzerrung.

Um das also zu vermeiden, können Sie sich dieses Modell aus der Wirtschaftspsychologie mit den Tanks vor Augen führen. Stellen Sie sich vor wichtigen Entscheidungen folgende Fragen:

  • Wie hoch ist der Füllstand in meinen Tanks gerade?
  • Neige ich gerade dazu, eine Heuristik als Entscheidungsgrundlage zu verwenden?
  • Wenn ja, ist das an dieser Stelle angebracht oder könnte es eine Verzerrung sein?

Kann so jede Verzerrung verhindert werden?

Nein. Leider nicht. Es gibt derzeit kein Mittel, das dafür sorgen könnte, dass wir damit aufhören Denk-Abkürzungen zu verwenden. Es wäre sogar schädlich für uns, wenn es ein solches Mittel gäbe. Heuristiken bei den kleinen Entscheidungen des Lebens zu verwenden ist nicht nur unumgänglich, sondern sogar dringend notwendig. Wir treffen jeden Tag zwischen 20.000 und 100.000 Entscheidungen. Und der einzige Weg auf Heuristiken zu verzichten, wäre das permanente aktive Nachdenken darüber, ob die eigene Informationsverarbeitung nun gerade verzerrt werden könnte oder nicht.
Abgesehen davon, dass unsere Hirnkapazität dafür gar nicht ausreichen würde, würden wir dann wahrscheinlich ständig nahe dem Nervenzusammenbruch sein.

DER Trade-off der Entscheidungen

Die Verwendung von Heuristiken ist also sozusagen eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Der kognitive und zeitliche Aufwand wird der Exaktheit und Fehlerfreiheit gegenübergestellt und Sie müssen sich entscheiden, wie viel Anstrengung Sie bereit sind in die Entscheidung zu stecken, um die größtmögliche Treffsicherheit zu erzielen.

Sie werden schnell erkennen, wo die Anstrengung sinnvoll ist und an welchen Stellen eher nicht. Möchten Sie minutenlang über der Sockenschublade grübeln, was nun die beste Wahl ist? Wahrscheinlich nicht. Und wenn Sie jeden Morgen erst einmal durchdenken würden, ob es klug ist, den Wecker noch eine Runde schlummern zu lassen, dann würden Sie wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass Sie das nicht tun sollten – jedoch hätten sie Ihre Schlummer-Zeit stattdessen mit Nachdenken verbracht.

Möchten Sie sich jedoch etwas Teureres anschaffen? Möchten Sie etwas in ihrem Leben verändern? Oder steht ihre Firma vor einer wegweisenden Entscheidung? Hier sollten Sie sich Ihre Bedürfnisse vor Augen führen und Ihre Entscheidungsgrundlage hinterfragen.

Die Tatsache, dass Sie bis hier gelesen haben, ist schon der erste und wichtigste Schritt: Denn schon das Wissen über Verzerrungen lässt uns skeptischer werden gegenüber der eigenen Entscheidungsgrundlage. Wenn Sie nun noch die Bereitschaft zeigen, zu akzeptieren, dass sie sich täuschen könnten, und daraufhin die Situation und Ihre Tanks objektiv und ehrlich betrachten, können Sie Verzerrungen wirksam bekämpfen.

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