Woche 22 –  Fragen ja. Verhör nein! 

In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat ein großes Unternehmen ein völlig neues, zusätzliches Geschäftsfeld eröffnet. Um dieses Geschäftsfeld möglichst schnell erfolgreich zu machen, kam man auf die naheliegende Idee, die besten Verkaufsmitarbeiter aus dem alten, angestammten Geschäftsbereich dafür einzusetzen. Gesagt, getan.

Einige Monate später stellte sich jedoch heraus, dass die bislang erfolgreichen Verkäufer im neuen Geschäftsfeld nur noch mittelmäßige Leistung erbrachten. Einige wenige waren gut oder sehr gut, aber die große Masse lieferte keine zufriedenstellende Ergebnisse. Halten wir nochmals fest: Sie waren vorher, mit anderen Produkten, die besten Verkäufer des Unternehmens. Sie hatten alle eine lange Historie des Erfolgs und waren nachweislich sehr gut. Auftreten, Eloquenz, Empathie und Überzeugungskraft hatten und haben sie noch immer. Was vorher hervorragend funktionierte, war jetzt allerdings offenbar kein Garant für Erfolg mehr. Was war geschehen?

Bei dem Unternehmen handelte es sich um einen Weltkonzern, der mit Fotokopierern eine marktbeherrschende Stellung hatte und nun den neuen Geschäftsbereich „Paper Output Management“ gründete. Der wesentliche Unterschied: Bislang ging es um Produktgeschäft, jetzt sollten plötzlich Projekte verkauft werden, bei denen Unternehmen mit großem Ausstoß an individuellen Drucksachen (beispielsweise der Rechnungsdruck der Deutschen Telekom) auf digitale Drucker umgestellt werden. Früher Produkte – jetzt Lösungen. Die Komplexität des Angebotes war enorm gestiegen.

Um das Problem zu lösen, beauftragte das Unternehmen eine Unternehmensberatung. Ziel war es herauszufinden, welche Verhaltensweisen der wenigen guten Verkäufer ausschlaggebend für den Erfolg waren und was die Star-Verkäufer, die jetzt nicht mehr erfolgreich waren, dazulernen mussten. Das Ergebnis wurde von Neil Rackham unter dem Titel „SPIN Selling“ veröffentlicht. Sicher hat sich seit den 80er Jahren einiges geändert, doch der Kern seiner Erkenntnisse von damals ist noch immer sehr relevant.

Rackham fand heraus, dass man die gestellten Fragen nach deren Ziel unterteilen kann, und dass das Mengenverhältnis der unterschiedlichen Fragetypen den Erfolg vorherbestimmt. Das bedeutet, dass Verkäufer, die bestimmte Fragen ausreichend oft stellten, erfolgreicher waren als andere, die wiederum andere Fragen öfter stellten.

Die Unterteilung der Fragen in vier Kategorien ist noch immer sinnvoll. Allerdings würde ich die Definition der vier Fragetypen aus heutiger Sicht so formulieren:

 

Fakten – Fragen, die sich auf die aktuelle Situation beziehen und überprüfbare Fakten abfragen

Motiv – Fragen, die Probleme, Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten aufdecken, die ein potentieller Kunde beseitigen möchte

Schmerzen – Fragen, die auf den Handlungsdruck abzielen und erkennen lassen, welche Bedeutung die Problemlösung hat

Nutzenerwartung – Fragen, die ermitteln, was erfüllt sein muss, um aus Sicht des Klienten eine akzeptable Lösung erzielt zu haben

 

Gehen wir der Reihe nach vor. In dieser Episode beschäftigen wir uns mit der ersten Kategorie, den Fakten. Bestimmt ist es hilfreich, zunächst die Fakten zu kennen, um dann mit weiteren Untersuchungen zu beginnen. Also liegt es auf der Hand, zunächst die genaue Situation aus Sicht des Kunden zu ergründen. Auf der Basis dieser Erkenntnis lassen sich dann weiterführende Fragen stellen. Zumindest scheint es so, denn wie gefährlich Fragen nach Fakten im Gespräch mit dem Entscheider sein können, zeigt dieses Beispiel:

Nehmen wir an, es geht um IT. Oder genauer um Unternehmenssoftware. Der Fachbegriff wäre ERP, also ein Software-System, mit dem alle grundlegenden Geschäftsprozesse des Unternehmens gesteuert werden. Stellen wir uns Fragen vor, die ein Verkäufer solcher Unternehmenssoftware dem Entscheider stellt:

 

Verkäufer: Wie viele Kunden haben Sie?

Entscheider: Etwa 4000.

V: Wieviele davon werden pro Monat beliefert?

E: Etwa 1500.

V: Wie viele Rechnungspositionen sind das pro Rechnung?

E: Das weiß ich nicht, Ich denke weniger als 5.

V: Wie viele Kunden werden mehrmals pro Woche oder gar täglich beliefert?

E: Das müssten so ca 50 bis 80 sein, schätze ich.

V: Wie oft überprüfen Sie das Kreditlimit?

E: Einmal im Monat.

V: Wie viele Lieferungen verlassen das Lager pro Monat?

E: Rund 5000.

V: Wie viele Retouren haben Sie im Durchschnitt pro Monat?

E: Weiß ich nicht.

V: Wie viele unterschiedliche Artikel haben Sie auf Lager?

E: Etwa. 10.000 Artikel sind gelistet, davon 80% mit Lagerbestand.

V: Wie viele Artikel haben eine monatliche Umschlagshäufigkeit größer 2? 

E: Das kann ich nur wertmäßig auf das gesamte Lager sagen: Das dreht sich 13 mal pro Jahr.

V: Wie oft machen Sie Inventur?

E: 2 x jährlich.

V: Was ist der durchschnittliche Inventur-Fehlbetrag?

E: Das weiß ich nicht auswendig. Warum fragen Sie mir hier Löcher in den Bauch??

 

Sie haben es sofort erkannt: Das sind keine Fragen, das ist eine Befragung. Wenn Sie jetzt noch eine Schreibtischlampe direkt auf das Gesicht des Kunden richten, ist das Verhör-Ambiente perfekt. Spaß beiseite. Wenn wir uns auf Fakten-Fragen beschränken, dann entsteht eine Situation, in der der Befragte entweder gelangweilt ist, weil er die Antworten kennt, oder beschämt, weil er sie nicht kennt oder sich unsicher ist. Also in jedem Fall eine ungute Stimmung. Es ist wirklich keine gute Idee, im Kundengespräch eine schlechte Stimmung herbeizuführen. Dennoch machen das viele Verkäufer unbewusst, wenn Sie den Kunden gleich zu Beginn nach den Fakten ausquetschen.

Meistens ist es unverzichtbar, die Fakten zu kennen, weil man sonst kaum verstehen kann, in welcher Situation sich der Kunde befindet. Wenn wir also diese Art von Fragen nicht stellen sollen, was ist dann die Alternative? Vielleicht können diese beiden Ideen Abhilfe schaffen:

Neben dem Entscheider haben wir oft auch andere Ansprechpartner beim Kunden. Vielleicht erinnern Sie sich an die Einteilung der Gesprächspartner in vier verschiedene Rollen. Neben dem Entscheider finden Sie da auch den Empfehler und den Beeinflusser. Wenn Sie bereits Kontakt zu solchen Personen in der Organisation des Kunden haben, können sie diese Gesprächspartner nach den Fakten befragen. Sie werden Ihnen bereitwillig alle Fragen beantworten.

Die zweite Idee eignet sich besonders für typische Akquise-Situationen: Sie haben ein erstes Gespräch mit einem Entscheider am Telefon oder bei einer anderen Gelegenheit geführt. Bei jenem Gespräch wurde als nächster Schritt ein ausführliches Gespräch vor Ort vereinbart. Das steht jetzt an. Andere Ansprechpartner haben Sie (noch) nicht. Wie können sie dennoch an die Informationen zu den Fakten kommen?

Dazu ist etwas Vorbereitung notwendig. Eine Stunde dürfte genügen. Die Zeit ist sicher nicht fehlinvestiert, weil Sie das Ergebnis künftig immer verwenden können. Nehmen Sie sich ein leeres Blatt Papier und skizzieren Sie einen Fragebogen, der alle Punkte abdeckt, die Sie wissen müssen. Achten Sie darauf, dass Sie alle Fragen streichen, die jetzt, zu Beginn des Verkaufsprozesses,  noch nicht wirklich relevant sind. Alle wichtigen Fragen ordnen Sie sinnvoll auf dem Blatt an. Bestimmt können Sie den Fragebogen jetzt sauber gestalten oder Sie geben ihn an jemanden weiter, der es kann.

Den fertigen Fragebogen nehmen Sie sich im konkreten Fall zur Hand und füllen vorab alle Felder selbst aus, die schon beantwortet sind. So verhindern Sie, dass der Entscheider verärgert ist, wenn Sie ihn nach Fakten fragen, die öffentlich verfügbar sind oder im Vorgespräch schon beantwortet wurden. Ich zum Beispiel wundere mich immer, wenn ich von meiner Bank ein Formular bekomme, in das ich unter anderem meine Kontonummer eintragen soll. Schließlich kennt die Bank meine Kontonummer und könnte mir das Formular kundenfreundlich schon vorausgefüllt zusenden. Vielleicht wollen Sie die in diesem Fall besonders wichtigen Fragen auch noch zusätzlich gelb markieren.

Den fertigen Fragebogen senden Sie mit einem Brief an die Assistenz Ihres Gesprächspartners. Der Brief könnte so lauten: „Sehr geehrte >Name der Assistenz<, für das wichtige Gespräch mit >Name des Entscheiders< am ___ um __ möchten wir sicherstellen, dass wir auf der Basis valider Fakten arbeiten. Dafür fehlen uns noch einige Informationen. Es dürfte für Sie ein Leichtes sein, die offenen Punkte in beiliegendem Bogen in Ihrem Hause beantworten zu lassen. Es genügt, wenn die Fakten zu Beginn des Gesprächs vorliegen. Allerdings würden Sie mir die Vorbereitung erleichtern, wenn ich schon ein oder zwei Tage vor dem Gespräch die Fakten kenne. Mit freundlichen Grüßen…“

Es dürfte der Assistenz des Entscheiders in der Tat leicht fallen, die fehlenden Informationen herbeizuschaffen, denn es ist sicher eine der wichtigsten Aufgaben der Assistenz, die Gespräche ihres Chefs sauber vorzubereiten. Meine Erfahrungen mit dieser Methode sind, dass in 4 von 5 Fällen die Infos vorliegen. Dann können Sie zu Beginn des Gesprächs auf den Fragebogen zeigen und sagen: „Wir können das Gespräch auf der Basis dieser Fakten führen. Was gibt es aus Ihrer Sicht noch zu ergänzen?“ Diese Art von Gesprächseinstieg zeigt, dass Sie als Profi gut vorbereitet in das Gespräch gehen und dass Sie das nicht zum ersten Mal machen.

Wenn Sie weitere Ideen haben, wie Sie an die Fakten kommen, ohne den Entscheider mit Fakten-Fragen zu nerven, freue ich mich auf Ihre Vorschläge. Wichtig ist, dass wir die schädliche Wirkung von Fakten-Fragen im Entscheidergespräch vermeiden.

Kommende Woche beschäftigen wir uns mit Fragen zum Motiv des Entscheiders. Wir wollen schließlich herausfinden, was das Problem ist, das er – eventuell mit unserer Hilfe – lösen möchte.